Dokumentarfilm, Österreich 2007
Die gebürtige Wienerin Mirjam Unger besucht in ihrem Dokumentarfilm Vienna’s Lost Daughters acht jüdische Frauen in New York, die vor Beginn des zweiten Weltkriegs aus dem von Ns-Deutschland besetzten Österreich fliehen konnten. Im Zentrum des Films stehen der Alltag der heute über 80jährigen Frauen und die darin eingearbeiteten Interviews über den Verlust der einstigen Heimatstadt Wien sowie der Familie, die sie dort zurücklassen mussten.
Vienna’s Lost Daughters präsentiert sich hierbei nicht als historische Aufarbeitung im Sinne einer Guido-Knopp-Dokumentation, sondern erinnert im Inszenierungsstil beizeiten an Claude Lanzmanns Shoah. So arbeitet auch Unger komplett ohne Archivmaterial und begleitet eine der Familien zurück an den Ort des Geschehens, beim Besuch in Wien. Jedoch folgt Vienna’s Lost Daughters keiner bestimmten Dramaturgie. Episodisch wechselt der Fokus der Dokumentation zwischen den einzelnen Alltagsgeschichten der acht Frauen, die in den kurzen Interviewpassagen oft nur vage oder in Andeutungen von ihrer Vergangenheit berichten. Mirjam Unger zeigt Zurückhaltung, wo Lanzmann die geistige Auseinandersetzung mit dem Geschehenen suchte. Statt nachzuhaken und seinem Gegenüber Antworten zu entlocken, scheut Unger Aufdringlichkeit oder Indiskretion. Letztlich vielleicht auf Kosten der Qualität des Films.
Vielmehr ist es Ungers Anliegen, die heutige Lebenssituation der Betroffenen zu zeigen und zu beobachten, welche Rolle ihre Geburtsstadt darin noch spielt. Den räumlichen Rahmen hierfür wählten die Frauen selbst, wie auch die Sprache: Während die meisten in kaum verlerntem Deutsch berichten, verbinden andere mit der Sprache zu viel Schlechtes, und bleiben strikt beim Englischen. In diese Alltagsszenen über Frisörbesuche oder Bridge-Nachmittage werden meist musikalische Erinnerungen an Wien eingeflochten, sei es das “Fiakerlied” oder Puccinis Oper “Tosca”, die immer wieder an der Wiener Staatsoper aufgeführt wird. Andere kramen sorgsam in Kisten und Kartons aufbewahrte Erinnerungsstücke hervor. Es sind Erinnerungen an eine Stadt, die sich gegen sie wandte: Die Frauen berichten, wenn überhaupt, nur bruchstückhaft von Ns-Terror, Berufsverboten oder den Novemberpogromen. Öfter schon von ehemaligen Freunden und Bekannten in der Bevölkerung, die sie aufgrund ihres “J” im Reisepass mieden
und gar die Straßenseite wechselten. So ist auch das heutige Verhältnis zur einstigen Heimat ein ambivalentes: Nur selten konnte ein Besuch des heutigen Wien ein gebrochenes Verhältnis zur Stadt wieder korrigieren.
Auch kommen Freunde und Familien der acht Frauen zu Wort, die meist mehr berichten als die eigentlichen Hauptpersonen. Wenn eine in New York geborene und aufgewachsene Tochter von ihrer durch die Ns-Verfolgung ausgelöste Klaustrophobie erzählt, wird ein anderes Ziel Ungers deutlich: Das Aufzeigen der bis heute spürbaren Folgen der Vertreibung und des Holocaust, der bis in die Nachfolgegenerationen reicht, die diese Zeit nur aus Erzählungen kennen.
So präsentiert sich Vienna’s Lost Daughters als Bestandsaufnahme der verbliebenen Erinnerungen und spürbaren Folgen der Vertreibung der acht jüdischen Frauen. Mirjam Unger schneidet interessante Themen zwar an, belässt es dann jedoch dabei und widmet sich wieder dem Alltag. So bleibt es meist leider beim schlichten Frisörbesuch mit einer alten Dame, die bestimmt viel zu erzählen hätte, wenn man ihr denn die richtigen Fragen stellen würde.
Christian Simon