GB, 2006
Kinostart: 22.02.2007

Zoë Hellers Roman Tagebuch einer Verführung, (im Original What Was She Thinking. Notes On A Scandal) von 2001 nicht zu kennen, ist durchaus verzeihlich.
Die alternde Lehrerin Barbara Covett sucht darin die Freundschaft ihrer jungen, geheimnisvollen Kollegin Sheba Hart, die als neue Lehrkraft an einer Schule im sozialen Brennpunkt die Hilfe der Älteren gerne annimmt. Als sie schließlich in eine Affäre mit einem ihrer Schüler hineinschlittert, wird Barbara Beichtmutter und gestrenger Richter. Als der Skandal in der Öffentlichkeit eskaliert, findet Sheba bei ihr eine vermeintliche Heimat. Doch Ms. Covetts verschwiegene Ziele sind nicht uneigennütziger Natur, wie sich herausstellt…

Ein Sensationsdrama also, könnte man denken, den brandheißen Stoff mit voyeuristischer Nadel zum Thriller gestrickt? Die Verfilmung scheint jedenfalls ihre eigenen Qualitäten zu besitzen, wie die Zahl prominenter Nominierungen und Preise zeigt. Allein für vier Oscars in Haupt- und Nebenrolle, Musik und Drehbuchadaption ist Tagebuch eines Skandals im Rennen, die Auszeichnung mit dem schwul-lesbischen Teddy Award”-Zuschauerpreis auf der diesjährigen Berlinale zeugt von der Sensibilität des Filmteams für das schwierige Thema.

Zu verdanken ist dies sicherlich vor allem dem Drehbuch von Patrick Marber. Marber, der sich schon mit der Vorlage zum wunderbaren Hautnah (verfilmt 2005) einen Namen als intelligenter Beobachter von Gesellschaft und sich verändernden Beziehungsstrukturen machen konnte, bringt den Roman als kompaktes, spannendes wie forderndes Kammerspiel auf die Leinwand und konzentriert sich dabei auf die komplizierte Beziehung der beiden Hauptakteurinnen.
Die Faszination des Films liegt in seiner Subjektivität: Gibt sich die Kamera für den Zuschauer doch immer als neutraler, unbestechlicher Beobachter der Filmwirklichkeit aus, so zeigt erst das Fortschreiten der Handlung, dass letztendlich nur eine von vielen sich gegenseitig ausschließenden Perspektiven gewählt wurde: Die der Barbara Covett, gespielt von Judi Dench. Ihre Tagebucheinträge, aus dem Off gesprochen, bieten Raum für zynische Kommentare zur Mittelschicht Großbritanniens, sie treiben die Geschichte voran und lassen das Panorama einer vielschichtigen Seele entstehen.

Judi Dench ist diese andere Faszination des Films. Eine derart eindrückliche Darstellung war lange nicht zu beobachten. Mit verlebtem Gesicht, in das die Jahrzehnte harter Pädagogik ebenso eingeschrieben sind wie die vielen Enttäuschungen ihres Privatlebens, ist Barbara Covett Identifikationsbasis und Sympathieträger genauso wie der böse Dämon.
Gleichzeitig mitfühlend wie abgestoßen sieht man sich diesem Charakter gegenüber, Eifersucht, Enttäuschung, Sehnsucht, Wahn - die Essenzen großer Dramen vereinigen sich, und Dench gelingt es bravourös. Wie leicht hätte die Darstellung ins Klischeehafte umschlagen können, verbiesterte alte Jungfer, intrigierende verkappte Lesbe? Sie tut es nicht.

Eine ähnliche Leistung muss man Cate Blanchett zusprechen. Sie spielt Sheba Hart, die ihrer Rolle als Mutter eines behinderten Kindes, Ehefrau, Lehrerin nur in einer hilflosen Sex-Affäre mit einem ihrer 15jährigen Schüler zu entfliehen sucht und vor Barbara in langen Gesprächen ihre Seele entblößt, bevor alles ins Wanken gerät, glaubwürdig wie intensiv. Ohne eine solche, brillante Partnerin an ihrer Seite würde auch Denchs Spiel niemals funktionieren, nur so wird die ganze Ambivalenz dieser merkwürdigen Beziehung deutlich.
Aber das gesamte Ensemble liefert gute Arbeit, sei es Bill Nighy als Shebas Ehemann Richard, sei es Andrew Simpson in der Rolle des jugendlichen Liebhabers Steven Connolly. Und Hart-Tochter Polly, gespielt von Juno Temple, darf ihrer Mutter ein verzweifeltes Dein Freund ist jünger als mein Freund!” an den Kopf werfen. Kompliment.
Das gilt auch dem Team. Richard Eyres Inszenierung ist dezent und der Sache dienlich, beachtenswert ist die Kameraführung und auch Philip Glass’ Filmmusik.

Wenn es einem Film gelingt, die vermuteten Grenzen zwischen Gut und Böse aufzulösen und den Zuschauer auch nur kurz darüber, was richtig ist und was falsch, zu verunsichern, also letztendlich auch eine Aussage über diese verrückte Gegenwart zu machen, dann ist das ein sehr guter Film.
Zoë Hellers Romanvorlage nicht zu kennen: geschenkt. Tagebuch eines Skandals aber muss doch jedem Filmliebhaber ganz energisch ans Herz gelegt werden.

Steffen Greiner