Michaela hat es geschafft: Sie hält die Zulassung zum Studium in ihren Händen. Endlich hinaus aus der Enge ihres Elternhauses und des Dorfes, in dem sie aufgewachsen ist. Tübingen, das ist für sie ein Stück der großen weiten Welt, ein Schritt auf dem Weg zur Erfüllung von Lebensträumen.
Doch sich selbst entkommt Michaela nicht. Mit ihr fahren die epileptischen Anfälle, die sie seit ihrer Jugend verfolgen, und bald hört die gläubige junge Frau in religiösem Wahn Stimmen. Klar ist: Sie braucht Hilfe. Doch woher? In ihrer Verzweiflung wendet sie sich an einen Priester…
Kennzeichnend für Requiem ist der Dialog eines Paares, den ich beim Verlassen des Kinos hörte. Er: “Das war jetzt aber kein Horrorfilm.” Sie: “Doch, das war ein totaler Horrorfilm.”
Versucht man den Film nach typischen Genre-Merkmalen zu kategorisieren, wird man wohl zum gleichen Schluss kommen wie der zitierte Herr. Und das, obwohl der reale Fall aus den 70er-Jahren, der Requiem zugrunde liegt, auch als Grundlage für allerlei Mystery-Schmu herhalten könnte — und weiß Gott auch schon musste.
In welches Genre könnte man dagegen Requiem einordnen? Psycho-Drama womöglich, vielleicht auch Provinz-Tragödie. Man tut sich schwer, zu eigen sind Geschichte und Umsetzung.
Und doch hat auch die zitierte Dame Recht. Und zwar, wenn man nach der Wirkung des Filmes fragt. Denn Requiem tut genau das, was ein Horrorfilm tun sollte: Er schockt. Und ist dazu nicht auf Monster, Psychokiller oder Untote angewiesen. Regisseur Hans Christian Schmid (23) genügen ein gutes Buch, eine starke Umsetzung und hervorragende Darsteller.
Schon die ersten Einstellungen erzeugen ein Gefühl von Beklemmung, das nicht mehr weichen wird. Da keucht Michaela (Sandra Hüller) mit ihrem Fahrrad einen Berg hinauf, die Kamera wackelt im Dogma-Stil. Dass da aber ein Berg ist, eine Landschaft, muss man fast erahnen. Kameramann Bogumil Godfrejow drehte einen Film der großen Brennweiten. Fast alles scheint mit dem Tele-Objektiv aufgenommen. Fast immer konzentriert sich die Kamera ganz auf die Hauptfigur. Und wenn sich dann hinter ihr doch einmal ein wenig Stadtansicht oder Landschaft öffnet, dann wirkt das nicht idyllisch, sondern riesenhaft, Schwindel erregend und bedrohlich. Eine Außenwelt, mit der die fragile Figur in ihrer Mitte überfordert ist, in der sie hilflos schwankt wie eine Nussschale auf hoher See — oder schwankt die Welt um sie herum? Nichts gibt´s von den üblichen Postkarten-Ansichten Tübingens, und selten sah die Schwäbische Alb so unheilsschwanger und überwältigend aus. Die konsequente Kameraarbeit hält über die ganze Länge des Films eine klaustrophobische Stimmung, unterstützt von einem düsteren, gut gewählten 70er-Jahre-Soundtrack.
Für Hauptdarstellerin Sandra Hüller bedeutet das Kamerakonzept ein Dasein in Großaufnahme. Für uns Laien ist wohl kaum zu ermessen, was das heißt - man hat allenfalls die eine oder andere Anekdote von Hollywood-Diven im Kopf, die schon vor Einstellungen von einigen Sekunden zitterten. Der Star von Requiem verbringt anderthalb Stunden in der gnadenlosen Nahperspektive. Und tut das mit einer Präsenz, die trotzdem nie aufdringlich wirkt. Ihr Gesicht trägt den Film, doch Sandra Hüller nimmt sich zurück und liefert so eine durchweg glaubwürdige Vorstellung.
Kaum zu glauben hingegen, dass diese Frau hier ihr Film-Debüt gibt! Nicht zuletzt der Darsteller-Preis der Berlinale und der Bundesfilmpreis zeugen von ihrer großen Leistung.
Auch sonst griff Schmid bei der Besetzung vor allem auf arrivierte Theaterleute zurück, die bis in die Nebenrollen angenehm bodenständig agieren. Besonders Burghart Klaußner (Die fetten Jahre sind vorbei) setzt als Michaelas kantiger Vater Akzente.
Das einzige, was man dem Drehbuch von Bernd Lange vorwerfen könnte, ist die einseitige Zeichnung der Mutter (Imogen Kogge). Diese öffnet Tür und Tor für küchenpsychologische Deutungen: “A-haaa, Liebesentzug durch die Mutter, klar knallt das Mädel da durch!” In einem Film, der sonst wenig erklärt und viele Ambivalenzen in der Schwebe hält, ist das zu plump. Vor allem, weil es die große Stärke von Requiem ist, die Verantwortung für das Geschehen - von “Schuld” möchte man gar nicht erst sprechen - in kleinen Portionen auf viele Schultern zu verteilen, auch die des Opfers. Gerade dadurch wirkt die Handlung in ihrer Unausweichlichkeit wie eine klassische Tragödie.
Auch Michaelas Furcht vor der “Klapse”, die letztendlich ihren Weg bestimmt, ist gut motiviert. Da sucht sie lieber Rat in vertrauten Institutionen, ergo der Kirche. Dass es dort menschelt und keine fatalen Automatismen am Werk sind, wie man es mit einem Schuss modischer Katholizismus-Kritik hätte darstellen können, ist ein weiteres starkes Detail dieses vielschichtigen Werks. So wie die gerade einmal sekundenlange Einstellung der abseits sitzenden kleinen Schwester gegen Ende des Films - kleiner Schnitt, große Wirkung.
Ja, das Ende von Requiem. Obwohl es jedem nach dem Hype um Der Exorzismus von Emily Rose bekannt sein dürfte, soll es hier nicht verraten werden. Denn wenn Emily Rose längst vergessen ist, wird Requiem die Filmfans noch beschäftigen. Nur so viel: Verstörender könnte der Schluss nicht sein. Noch einmal sieht man da Michaelas Gesicht in Großaufnahme. Doch darin sind keine Qualen, keine Zweifel mehr zu sehen, sondern ein eigenartiger Frieden und ein entrücktes Lächeln: der totale Gegensatz zum ratlosen und aufgewühlten Zuschauer.
Boris “Marlowe” Retzlaff