Kinostart: 20.02. / 03.04.2014
Gefährliche Triebschaften
In Tausendundeine Nacht schiebt Scheherazade ihre Hinrichtung auf, indem sie ihrem Ehemann jede Nacht eine Geschichte erzählt und im Morgengrauen an der spannendsten Stelle abbricht.
In Nymph()maniac, dem neuen Film des dänischen Regisseurs Lars von Trier, erzählt eine Frau in einer Nacht ihre Lebensgeschichte dem guten Samariter Seligman, der sie verletzt von der Straße aufgelesen hat. Am Ende haben sich beider Leben verändert.
Nymph()maniac ist in dreifacher Hinsicht ein ausschweifender Film.
Erstens werden in acht Kapiteln alle denkbaren Spielarten der Sexualität mit der bewährten von Trierschen Konsequenz, Brutalität und Explizitheit durchexerziert. Joe entdeckt früh ihre Sexualität und erklärt nach ihrem unterwältigenden ersten Mal mit dem Mopedfahrer Jerome der Liebe den Krieg.
In den folgenden Jahrzehnten schläft sie mit unzähligen Männern und ordnet ihrer Sexsucht alles andere unter. Zwar sprengt sie eine Selbsthilfegruppe mit einer pathetischen Rede, wie sehr sie ihre Lust liebe, betont in ihren Erzählungen aber immer und immer wieder, was für ein schlechter, unglücklicher, einsamer Mensch sie sei. So verliert sie ihre große Liebe, ihr leibliches Kind, ihre Ziehtochter und liegt am Ende zerschlagen und gedemütigt in doppelter Hinsicht am Boden.
Zweitens wirft Seligman, der als asexueller Gelehrter zur sexuellen Ebene von Joes Geschichten keinen Zugang hat, seinen gewaltigen Bildungsballast in die Waagschale und kommentiert als der besserwisserischste Zuhörer der Filmgeschichte das Geschehen mit zum Teil abstrusesten Abschweifungen. Beispielsweise vergleicht er Joes Verführungskünste mit seinen Erfahrungen als Angler und sieht in ihren Geschichten immer wieder Fibonacci-Zahlen auftauchen.
Drittens sprengte der vom Regisseur eigentlich vorgesehene Fassung des Films mit fünfeinhalb Stunden Laufzeit den Rahmen dessen, was im Kino zu vermarkten ist, so lange keine Hobbits darin vorkommen. So wurde Nymph()maniac in zwei Teile à zwei Stunden geteilt, mit Vorspännen, Abspännen und allem Gedöns, auch wenn die Filmhandlungen nahtlos ineinanander übergehen. Obwohl der Zuschauer gegenüber der vom Regisseur abgesegneten Festivalfassung 90 Minuten einbüßt, bleibt mit 240 Minuten immer noch genug von Trier übrig, um die empfohlene Jahreszufuhr an Weltekel damit zu decken.
Wenig überraschend, dass die Kritik das Opus magnum eines der letzten Regisseure mit unverkennbarer Handschrift, der zwischen Bach und Rammstein oszillierend seine eigenen Stoffe auf die Leinwand bannt, frenetisch feiert. Diese Sichtweise ist ebenso nachvollziehbar, wie den Film als quälend sperriges europäisches Bildungsgehuber mit gelegentlichen Ekelmomenten abzulehnen. Gerade bei der Schlusspointe muss man sagen, dass sie nur da ist, weil es eben zu einem Lars-von-Trier-Film gehört, eine düstere Schlusspointe zu haben, nicht weil es irgendeine intrinsische Notwendigkeit dafür gibt.
Eine eigenwillige Spannung besteht zwischen den eindimensionalen Reißbrettfiguren, die das Drehbuch erstellt, und den hervorragenden Schauspielern, die sie verkörpern. Besonders hervorzuheben ist Newcomerin Stacy Martin, die die junge Joe spielt und eine verletzliche Neugier und Lebensgier einbringt. Charlotte Gainsbourgh hingegen zeigt die ältere Joe als eine von ihrer Sucht zunehmend erdrückte und ausgebrannte Frau. Dem gegenüber meistert Shia LaBeouf die größte Herausforderung seiner Schauspielkarriere in der Rolle einer faden, rückgratlosen, selbstverliebten Luftpumpe, die unendlich mehr Erfolg hat, als ihr zusteht.
Eine besonders feine Rolle fällt Uma Thurman als verlassener Ehefrau zu, die mit ihren drei Söhnen in der Wohnung der jungen Rivalin auftaucht und dort einen sich quälend lang hinziehenden Nervenzusammenbruch hinlegt.
In dieser Szene zeigt sich die Qualität von Triers: Länger und genauer hinzuschauen, als es die meisten anderen Regisseure können. Oder wollen.
Sven Ole Lorenzen