Kafka am Strand - Judgement Day

In Molières Der Menschenfeind” versucht der Höfling Philinte, den weltabwandten Alceste, der mit seiner kompromisslosen Wahrheitsliebe bei Hofe aneckt, zu einem diplomatischeren, gesellschaftlich akzeptableren Verhalten zu bewegen.
In Philippe Le Guays Molière auf dem Fahrrad reist der erfolgreiche Fernseh-Arzt Gauthier auf die schroffe Atlantikinsel Île de Ré, um den dort im Exil lebenden, ebenso schroffen aber brillanten Theaterschauspieler Serge für sein neues Projekt zu gewinnen:
Um endlich auch künstlerische Anerkennung zu erlangen, beabsichtigt Gauthier den Menschenfeind” selbst zu inszenieren und gleichzeitig den Alceste zu spielen, eine Rolle, die als eine der anspruchsvollsten des französischen Dramas gilt. Um die nötige Gravitas ins Stück zu bringen, möchte er seinen renommierten Freund zurück ans Theater locken.
Serge ist vom Projekt zunächst angetan, da er den Menschenfeind” verehrt, möchte sich aber nicht mit der Rolle des Philinte zufrieden geben und schlägt deshalb vor, die Rollen bei jeder Vorstellung abzuwechseln.
Und so arbeiten sich die beiden an den 350 Jahre alten Versen ab, fahren auf der Insel mit dem Fahrrad umher, verlieben sich ein wenig in eine schlagfertige Italienerin, geben einer Pornodarstellerin Schauspielunterricht, streiten und versöhnen sich.

Das ist alles hervorragend gespielt und sehr amüsant. Der Film zeigt eine Geschichte über das Stück den Menschenfeind” und nimmt die Figurenkonstellation des Stückes gleichzeitig auf.
Gauthier/Philinte ist erfolgreich und auf den ersten Blick der Optimist und Menschenfreund, während Serge/Alceste ein zynischer Weltverweigerer und Pessimist zu sein scheint.
Doch im Verlauf des Filmes werden diese Dichotomien aufgelöst. Hat nicht Serge/Alceste das positivere Menschenbild, wenn er glaubt, dem Menschen die Wahrheit zumuten zu können? Der zunächst als zurückgezogener, neurotisch und bisweilen bösartig gezeigte Eremit öffnet sich der Liebe und flieht vom Operationstisch vor seiner unmittelbar bevorstehenden Vasektomie.
Gauthier/Philinte tritt als narzistischer, eitler aber gleichzeitig gönnerhafter und positiver Mensch auf - und findet sich auf einmal in einer Schlägerei wieder, weil ihm seine guten Intentionen nicht abgenommen werden.
Ist der Fernsehstar mit der Föhnwelle nicht der eigentliche Menschenfeind, Pessimist und Zyniker, wenn er an der Natur des Menschen resigniert und das Spiel der Gesellschaft einfach mitspielt?
Diese Interpretation des Films wird leider sehr holzhammerhaft im ersten Drittel von einer Figur selbst herausposaunt. Regisseur Le Guay hätte sich aber ruhig auf seinen Film verlassen können, der solche hilfreichen Kommentare nicht benötigt.

Molière auf dem Fahrrad ist eindeutig ein Kammerspiel, neben den Figuren der beiden Hauptdarsteller Fabrice Luchini und Lambert Wilson gibt es keine weiter ausdefinierten Charaktere, die nicht mit ihrer Funktion vollständig umschrieben sind, wie den Makler, den Taxifahrer, den love interest.
Und wie bei einem so episodischen Film nicht weiter verwunderlich, gibt es auch Szenen, die nicht so stark sind und nirgendwo hin führen, wie zum Beispiel, wenn Gauthier beinahe in einem Whirlpool ertrinkt, nur damit Serge und seine Flamme einen abwegigen Witz darüber machen können. Der zentrale Konflikt und die hervorragenden Schauspieler halten den Film allerdings mühelos zusammen. Ein weiteres großes Plus ist es, dass die falsche Versöhnung ausbleibt und der Film sich traut, so offen zu bleiben, wie das Stück selbst.

Die Franzosen demonstrieren also mal wieder, wie man aus einem literarischen Stoff eine leichte und gelungene Komödie macht, während man hier in Villabajo noch schrubbt.

Sven Ole Lorenzen