Großbritannien, USA 2008
Höhenflug eines Traumtänzers
Am 7. August 1974 balancierte der französische Allround-Artist Philippe Petit ohne Sicherheitsgurt oder Netz auf einem Drahtseil zwischen den Zwillingstürmen des World Trade Centers - und das fast eine Stunde lang. Danach wurde er zwar für kurze Zeit festgenommen, verließ das Gefängnis aber unbeschadet als internationaler Medienstar. Dass die waghalsige Aktion überhaupt gelingen konnte, verdankte er - neben einer gehörigen Portion Glück - seinen Komplizen, die den illegalen Coup monatelang bis ins Detail planten.
James Marsh beleuchtet in seinem vielbeachteten Dokumentarfilm den abenteuerlichen “Tathergang” und lässt alle wichtigen Konspiranten sowie Petit selbst ausführlich zu Wort kommen. Die abwechslungsreiche Mischung aus Interviews, Originalaufnahmen und nachgestellten Szenen ergibt ein ebenso spannendes wie kurzweiliges Zeugnis des wahnwitzigen Kunststücks. Mindestens ebenso interessant ist aber das fast nebenbei servierte Porträt eines besessenen Künstlers. Den Traum vom Drahtseiltanz zwischen den Zwillingstürmen hatte Petit bereits, als er zum ersten Mal vom Bau der damals höchsten Türme der Welt erfuhr. Der Erfolgswille und die unbeirrbare Leidenschaft, die auch heute noch in den Interviewpassagen spürbar sind, steckten dabei sowohl seine Lebensgefährtin als auch seine Freunde und selbst zufällige Bekanntschaften an, die allesamt bereit waren, ihm zu helfen. Die gemeinsame Unternehmung war dabei das verbindende Element für die zwischenmenschlichen Beziehungen in Petits Leben, die nach dem Erfolg - trotz aller Intensität und investierter Emotion - abrupt ihr Ende fanden. Ein Umstand, der vor allem Jean-Louis Blondeau, dem einstmals besten Freund Petits, auch heute noch zu schaffen macht und im Endeffekt ein differenziertes Bild eines Künstlers und Menschen zeichnet, dessen Geltungsdrang und Egoismus ebenso ausgeprägt sind wie seine Innigkeit und Hingabe. Doch sind es meist solch schwierige Charaktere, denen es gelingt, selbst Großes zu erschaffen und andere, denen es aus Mangel an Talent oder Willen nicht vergönnt ist, derartiges zu leisten, für seine Sache begeistern. Dass Marsh es schafft, seinem Publikum dies zu verdeutlichen, ohne schmutzige Wäsche zu waschen oder Partei zu ergreifen, ist der vielleicht größte Verdienst seiner tollen Regieleistung.
Fazit: Schlichtweg großartig.
Michael “Eminence” Reisner