USA, 2012

Die Elenden

Im Frankreich des 18. Jahrhunderts stiehlt der bettelarme Jean Valjean (Hugh Jackman) ein Stück Brot, um seine Hunger leidende Familie zu retten. Die 19-jährige Haftstrafe reicht dem Inspektor Javert (Russell Crowe) nicht aus, und da es im Paris der Revolutionszeit keine echten Verbrechen aufzuklären gibt, macht er es sich zur Lebensaufgabe, Valjean wieder ins Zuchthaus zu bringen. Im Laufe der Jahre beginnt der geläuterte Valjean ein neues Leben unter einer neuen Identität. In seinem steten Drang, Gutes zu tun, nimmt er sich der jungen Cosette (Amanda Seyfried) an, der Tochter der verarmten Fantine (Anne Hathaway), doch Javert lässt nicht ab.

Als die Nominierungen für die kommende Oscar-Verleihung verlesen wurden, gab es eine satte Überraschung. Les Miserables, die Verfilmung des gleichnamigen Erfolgsmusicals, wurde wie erwartet in fast allen wichtigen Kategorien nominiert. Bester Film, Beste Hauptdarsteller, Kostüme, Makeup, Bester Song, Produktionsdesign und gar bester Ton. Nur ein Name fehlte: Regisseur Tom Hooper.
Die anwesenden Journalisten zeigten sich überrascht, doch nach Ansicht des Films darf man fragen, warum es hätte anders kommen sollen.

Hooper gibt sich fraglos Mühe. Wie schon bei The King’s Speech ist die Schauspielführung tadellos.
Hugh Jackman und Anne Hathaway spielen sich die Seele aus dem Leib, und auch die Nebendarsteller - u.a. sorgen Helena Bonham Carter und Sacha Baron Cohen für etwas comic relief - sind stets zumindest sehenswert. Letzteres gilt auch für die Ausstattung, und sogar die Effekte sind gelungen.
Kaum auszudenken, was für ein Meisterwerk dabei herausgekommen wäre, wenn Hooper fähig wäre, echte Emotionen auf die Leinwand zu bringen. Derart zielstrebig arbeitet er gegen jede Bindung zu den Figuren, als wolle er verhindern, dass die Zuschauer von der Traurigkeit übermannt werden. Beschauliche Szenen werden mit wackeliger Handkamera eingefangen, traurige mit Dutch Angle, und immer wieder blicken die Figuren direkt in die Kamera. Wenn Charaktere plötzlich in die Kamera sehen, durchbrechen sie die sogenannte vierte Wand - ein Stilmittel, das dem Zuschauer den Boden unter den Füßen wegzieht. Hooper verwendet es in der abstrusen Annahme, es fördere die Intimität, die Nähe zu den Zuschauern.

Das Stück Schokolade im Tofukuchen ist die Szene, in der Anne Hathaway I dreamed a dream” singt. Hier hält sich Hooper weitestgehend zurück und überlässt das Spielen Hathaway, die innerhalb einer einzigen Einstellung ihre Oscar-Nominierung rechtfertigt.

Vielleicht ist es nicht ganz fair, ein Musical nach filmischen Maßstäben zu beurteilen. Vielleicht sollte man eine Geschichte über Franzosen, die Deutsch reden und Englisch singen, ohnehin nicht zu ernst nehmen. Bei einem derart hochgelobten Film, mit solchen Mitteln produziert, sollte man jedoch erwarten können, dass der Regisseur grundlegendste Filmmechanismen beherrscht. Was nützt eine bewegende Geschichte, wenn sie nicht bewegt?

Felix Flex” Dencker