Das schleichende Eindringen des Irrationalen

Das frisch verheiratete Ehepaar Alain und Bénédicte Getty scheint das Leben voll im Griff zu haben. Die Liebe ist noch so intensiv wie am ersten Tag, das neue Eigenheim am Stadtrand in der südfranzösischen Provinz geradezu perfekt und der Job von Alain erweist sich als sehr karriereträchtig. Während er als Tüftler eine revolutionäre Überwachungskamera entwickelt und somit seinen Chef in hellste Verzückung versetzt, richtet sie das adrette Heim.
Gelassen sieht das Paar der Zukunft entgegen bis eines Abends die heile Welt zu bröckeln beginnt. Alains Chef Richard Pollock und seine Frau Alice sind zum Essen eingeladen. Alice jedoch ist alles andere als ein freundlich gesinnter Gast. Kaum angekommen, setzt sie dem Paar verbal schwer zu, hinterfragt deren Liebe, belächelt ihre Naivität und rastet schließlich völlig aus, als sie ihren Mann bei Tisch in aller Form bloßstellt. Tags darauf kehrt Alice zurück, um sich für ihr Verhalten zu entschuldigen. Doch schon bald soll sie wiederum sehr exzentrisch werden, beginnend damit, sich im Gästezimmer einzusperren und kurz darauf im Angesicht Bénédictes per Kopfschuss selbst hinzurichten.
Zu allem Überdruss ist dann auch noch die Spüle mit einem Tier verstopft, dass sich als Lemming entpuppt. Doch wie nur kommt der skandinavische Nager in die Küche der Gettys? Warum ist nach dem Selbstmord die herzensgute Bénédicte auf einmal ein berechnendes, eiskaltes Luder? Ist gar der Lemming der Auslöser dieser rätselhaften Ereignisse? Diese Fragen und weitere unerwartete Wendungen sollen den Zuschauer für zwei Stunden in eine Welt entführen, die geprägt ist von Lyncher Mystik und Hitchock´scher Spannung.

Den Eröffnungsfilm von Cannes 2005 einem Genre zu zuordnen, obliegt einer gewissen Schwierigkeit. Er ist sowohl Drama als auch Thriller, gebettet in ein seidenes Tuch aus Mystery. Jedes dieser drei Genres wird hervorragend bedient, ohne jedoch dass eines die Oberhand behält. Wähnt man sich zu einem Zeitpunkt noch in tiefdramatischen Gefilden, so stellt sich schnell heraus, dass die Stimmung schon im nächsten Moment kippt: Schlagartig, aber wie selbstverständlich wandelt der Film sein Gesicht und bietet pures Thrillerkino. Durch diese perfekte Mischung eben schafft Regisseur Dominik Moll einen spannungsgeladenen Mix, der an einigen Stellen sogar zum Schmunzeln anregt. Typische Sehgewohnheiten, die durch ein klares Genre bedient werden, können getrost über Bord geworfen werden. Derartige Filme, wie schon der Anfang 2006 gestartete Caché von Michael Haneke, versprühen eine ganz eigene Aura. Mag sein, dass man dies als neuen Trend des europäischen Kinos bezeichnen kann, gewiss ist aber, dass Hollywood” derartige Filmkunst so gut wie nicht in seinem Repertoire hat. Demnach ist Lemming in seiner Form wahrlich überraschend anders.
Neben dem hervorragenden Drehbuch stimmen auch die Optik und vor allem die schauspielerische Klasse. Eine Charlotte Rampling in Topform ist bereits allein in der Lage, einen Film zu tragen. Hier brillieren zudem noch Charlotte Gainsbourg, Laurent Lucas, und André Dussolier an ihrer Seite, allesamt Schauspieler, die in Frankreich zur Topliga gehören. Den wohl schwierigsten Part hatte Gainsbourg inne, da sie quasi in einer Doppelrolle agiert, die sie mit erstaunlicher Überzeugung meistert. Mehr soll dazu aber nicht verraten werden, da dieser Part einer der unvorhersehbaren Wendungen ist, die Lemming so überaus spannend machen.

Bei allem Lob soll aber nicht ungeachtet bleiben, dass der Film auch ein paar Schwächen aufweist. Die Einbettung der Geschichte in einen Off-Kommentar, zu Beginn und Ende der Story, lassen die mysteriöse Stimmung etwas schwinden, da so eher ein Märchencharakter zu Tage tritt. Dies nimmt freilich der Fantasie einen gewissen Spekulationsspielraum, zumal auch noch entscheidende Erklärungen nachgeliefert werden. Sicherlich mag dies ein probates Mittel sein, dem Zuschauer ein wenig auf die Sprünge zu helfen, ein David Lynch hingegen würde auf derartige Sinndeutungen verzichten. Die eingestreuten Metaphern büßen somit an Ausdruck ein, den sie innerhalb der Geschichte hervorragend aufgebaut haben. Nichts desto trotz ist Lemming geprägt von atmosphärischer Dichte und einer Story, die man so nicht alle Tage zu sehen bekommt.

Mathias Bornemann