Die Leiden des Murat K.
Soldaten schreien, Gefangene in orangenen Overalls knien in der grellen Sonne zwischen Stacheldraht. Einem Mann rutscht die schwarze Kapuze vom Kopf. Ein erster blinzelnder Blick auf den Ort, an dem er die nächsten Jahre seines Lebens verbringen wird: Das Gefangenenlager des amerikanischen Marinestützpunkts in der Guantánamo-Bucht auf Kuba. Der Häftling: Ein Bremer Jung’ namens Murat Kurnaz.
Der Film Fünf Jahre Leben zeigt Kurnaz’ Dasein an einem der berüchtigtsten Orte der Welt, von den Drahtkäfigen in “Camp X-Ray” über die Gitterzelle in “Camp Delta” bis in die Isolationshaft. Man sieht den Alltag der Gefangenen, prügelnde Wärter, systematische Demütigung, aber auch Momente der Menschlichkeit.
Den Schwerpunkt des Films bildet das Drama im Verhörraum. Gegen Kurnaz liegt kein Beweis vor, er wurde verhaftet und weggeschlossen auf bloßen Verdacht. Der Verhörspezialist Gail Holford versucht alles, um ihm Informationen zu entlocken. Über seine Freunde, seine Pläne und ob er vielleicht zufällig Osama bin Laden kennt - irgendein kleines bisschen Schuld muss dem Kerl doch nachzuweisen sein.
Kurnaz kann nur wiederholen: Er war zu religiösen Studien in Pakistan, wurde dort von der örtlichen Polizei festgenommen und an die Amerikaner verkauft. Er war einfach zur falschen Zeit am falschen Ort und sitzt unschuldig hinter Gittern. Die Verhöre entwickeln sich zu einem Psychoduell zwischen Häftling und dem Ermittler, dem es zuletzt nur noch darum geht, den Gefangenen um jeden Preis zu brechen.
Fünf Jahre Leben ist über weite Strecken ein Kammerspiel, das von seinen starken Darstellern getragen wird.
Sascha Alexander Geršak verkörpert Kurnaz mit großer Intensität und vollem Einsatz. Sein Kampf um einen Rest Würde an einem Ort, der alle Würde nimmt, seine verzweifelte Suche nach innerer Stärke angesichts unmenschlicher Gräuel spiegeln sich in seinem Gesicht, seiner Haltung, seinem Körper (der Darsteller speckte für die Rolle gut zwanzig Kilo ab). Als Identifikationsfigur ist Kurnaz zu sperrig, doch die Verve, mit der Geršak den Schmerzensmann gibt, lässt einen mitfühlen.
Seinen Widerpart Holford verkörpert der Brite Ben Miles. Der Zynismus, in den er manchmal verfällt, lässt ahnen, dass ihn der Ort und sein Tun anwidern. Doch der Verhörspezialist verschanzt sich hinter einer Fassade aus Maßanzug und kühler Professionalität. Er ist einer von denen, die nur ihren Job machen, und behält sein Pokerface auch auf, wenn ihm Frau und Tochter Video-Weihnachtsgrüße in die Hölle schicken.
Regisseur und Autor Stefan Schaller nahm die die Autobiografie von Murat Kurnaz als Grundlage für sein Drehbuch, dampft den Stoff aber konsequent ein. Somit ist der Film einiges nicht. Er ist keine Anklage gegenüber der skandalösen Gleichgültigkeit der damaligen Bundesregierung angesichts des Falls Kurnaz. Er thematisiert nicht die körperliche Folter, der der Gefangene ausgesetzt war - man sieht kein Waterboardig, keine Elektroschocks, keine Scheinhinrichtung. Einige Rezensenten, die ihren jeweiligen Lieblings-Guantánamo-Aspekt vermissen, machen ihm das zum Vorwurf. Nun, man kann auch einer Kuh vorwerfen, dass sie keine Eier legt.
Nehmen wir Fünf Jahre Leben also als das, was es ist. Durch seine Konzentration auf die Verhörsituation und die psychischen Druckmittel der Haft liefert der Film eine eindrucksvolle Darstellung des Systems Guantánamo in starken Bildern. Er hat keine aufdringlichen Effekte nötig, um seine Wirkung zu entfalten und gehörige Spannung zu erzeugen. Einziges Manko dieser Reduktion: Die Rückblenden, die den Weg des Bremers in seine fatale Lage andeuten, geraten in ihrer Knappheit mitunter plakativ; vielleicht wäre es die bessere Wahl gewesen, auch das in den gelungenen Dialogen der Befragungen abzuhandeln, statt es zu bebildern.
Schaller erfindet das Genre des Gefängnis- beziehungsweise Verhörfilms sicher nicht neu. Dass der Film trotz schon öfter gesehener Versatzstücke frisch wirkt, liegt nicht zuletzt an diesem bohrenden Wissen: Das passiert wirklich. Das Lager existiert. Mit Guantánamo hat ein Rechtsstaat einen rechtsfreien Raum eingerichtet - ein Schandfleck unserer westlichen Welt. Fünf Jahre Leben legt den Finger zielgenau auf diese Wunde. Schon das macht ihn nicht nur zu einem guten, sondern auch zu einem wichtigen Film unserer Zeit.
Doch das ist nicht alles. Was Fünf Jahre Leben zu einem wirklich starken Film macht, ist die flirrende Darstellung, die sich vor allem aus den Dialogen der Protagonisten entwickelt. Aus der Innensicht entgleitet Guantánamo zunehmend ins Irreale, wird zu einem kafkaesken Nicht-Ort, wo Lüge und Wahrheit so gründlich durcheinander wabern, dass sie einander schließlich berühren und durchdringen und alle Gewissheiten schwinden. Dass der Film die Frage nach Freiheit und Würde an einem solchen Ort aufwirft, hebt Fünf Jahre Leben weit über das politische Plädoyer hinaus und macht es zum menschlichen Drama mit Tiefe.
Bleibt zuletzt anzumerken: Autor und Regisseur Stefan Schaller gibt hier sein Debüt, Sascha A. Geršak, bisher vor allem im Theater zu Hause, spielt seine erste Film-Hauptrolle. Wenn zwei so loslegen, ist das ein Versprechen für die nächsten Jahre im deutschen Film.
Boris “Marlowe” Retzlaff