Gefangen in der Realität — Frei in der Fantasie
Es ist Nacht, man hört lauten Straßenverkehr, ein Licht flackert auf. In der nächsten Einstellung eröffnet sich dem Zuschauer das Bild eines verunglückten Autos. Ein junger Mann, noch schwer zu erkennen, tritt in Erscheinung. Er bückt sich, hebt ein Teil des Unfallfahrzeugs auf und verlässt den Tatort. Das war Armin. Die mittlere Reife gerade in der Tasche steht er auf der Schwelle zum Erwachsenwerden. Schnell soll dem Zuschauer klar werden, dass dies gar nicht so einfach ist.
Planlos eckt Armin in all seinen Lebenssituationen irgendwie an. Sei es in der Familie, bei der Jobsuche oder aber beim Werben um eine Freundin, nichts will so recht funktionieren. Im trauten Schoß der Familie, die den Jungen in all ihrer Piefigkeit zu erdrücken scheint, findet er ebenso wenig Halt, wie in der Welt abseits dieser Mauern. Denn außerhalb des Elternhauses gleicht ein Haus dem andern, typisch Reihenhaussieldung. Trotz bunter Blumen im Vorgarten beschleicht einen der Eindruck, dass alles Grau in Grau ist. Selbst der sonntägliche Familienspaziergang findet nicht in einem schönen Park statt, sondern vor der Kulisse des Braunkohletagebaus im rheinländischen Garzweiler. Kein Wunder, dass Armin derart deprimiert wirkt. Allerdings kommt der Jugendliche auch kein Schritt aus sich selbst heraus. Er redet kaum, reagiert oft allzu bockig und wirkt ständig in sich gekehrt oder gar gelangweilt abwesend. Sehr deutlich wird dies in Bezug zur hypothetischen Freundin Katja. Diese gebraucht
Armin in seinen Annäherungsversuchen für Girls-Club-Spielchen, ohne dass es ihn jedoch recht zu schocken vermag, als sich rausstellt, dass sie ihn nur benutzt hat. Schon längst hat er abgeschlossen mit der realen Welt, die ihn keineswegs mehr zu berühren vermag, dennoch dürstet er nach Aufmerksamkeit.
Als er besagten Unfall beobachtet, bietet sich ihm eine Chance. Statt weiterhin, wie mit der Mutter abgesprochen, jeden Tag eine Bewerbung zu schreiben, verfasst er lieber Bekennerbriefe für Taten, die er nicht begangen hat. Die erhoffte Wirkung, nämlich ein breites Medieninteresse, lässt nicht lange auf sich warten. Endlich ist Armin Jemand. Zwar anonym, aber man schenkt ihm Aufmerksamkeit.
Nach Milchwald kommt mit Falscher Bekenner der zweite Spielfilm von Regisseur und Drehbuchautor Christoph Hochhäusler in die Kinos. Wieder ist es ein Film, der sich stark mit Familie und Gesellschaft auseinander setzt. Ein Film, der zum Nachdenken anregen soll.
Armins Verhalten nun rein als Produkt seiner Pubertät ab zu tun wäre zu einfach und liegt auch nicht im Sinne des Regisseurs. Neben den hormonellen Veränderungen im Körper des Teenagers, die auch die Psyche beeinträchtigen, ist es vor allem das Umfeld, das ihm die Lebensluft abzuschnüren scheint. Falscher Bekenner zeigt in geradezu bedrückender Bildästhetik, wie Armin seine Umwelt wahrnimmt. Hier ist nichts verwackelt oder gar unscharf aber dennoch irgendwie farblos. Bildsprache und Thematik passen demnach sehr gut zusammen. Auch die Darsteller werden ihren Rollen gerecht, ausgenommen die Szenen, die die Bewerbungsgespräche zeigen. Diese bergen dafür komödiantische Elemente, so dass man über mangelnde schauspielerische Authenzität hinwegsehen mag.
Das große Problem aber liegt in der vermeintlichen Gesellschaftskritik. Bedienen sich andere Filme differenzierter sozialer Strukturen, wie (in) Knallhart der Berliner Rütli Gegend, die den ebenfalls Jugendlichen Michael zu einem kriminellen werden lässt, so wirkt es hier doch sehr behauptet, wie Armin reagiert. Rein die triste Vorstadtlandschaft und Armins bodenständige Geschwister, die einen gewissen Erwartungsdruck erzeugen, sind noch keine Begründung dafür, wie er sich verhält. Weitere Facetten, die dies untermauern würden, fehlen schlichtweg. Der entstehende Eindruck, geprägt durch wiederkehrende, immer gleiche Aufnahmen, lässt eher vermuten, dass Armin einfach nur ein Null-Bock-Typ ist, der distanziert von sich und seiner Umwelt daher lebt. Was soll daraus also abgeleitet werden? Ist dies ein bezeichnendes Beispiel für die heutige Jugend und deren Hilflosigkeit, sich in der Gesellschaft hervorzutun? Nein. Armin kann nur als Einzelperson verstanden werden, der definitiv Verhaltensstörungen aufweist. Gesellschaftliche Missstände oder gar die plakative These “so ist die Jugend heutzutage nun mal” lassen sich aus dem Gezeigten keineswegs ableiten. Denn auch wenn es nicht zwangsläufig zutrifft, dass ein jeder seines Glückes selber Schmied ist, so ist ein Mindestmaß an Eigeninitiative schon erforderlich, um den Weg zum Erfolg zu ebnen. Der Figur Armin fehlt diese Kompetenz in jeglicher Hinsicht. Er zieht sich lediglich in seine Scheinrealität zurück, die zum einen durch die vermeintlichen Anschläge und zum andern durch sexuelle Exesse mit Bikern geprägt ist. Gerade diese sexuellen Fantasien sind für den Zuschauer aber kaum als solche auszumachen, da sie nahtlos in die Film-Realität eingebunden werden. So stellt sich häufig die Frage, was diese Blow-Jobs auf der Autobahntoilette überhaupt sollen, stehen sie doch in keinem Bezug zu einer Beziehung mit der angehimmelten Katja.
Sowohl der Aufbau des Films, als auch das Aufzeigen von sozialen Missständen sind eher irritierend als einleuchtend. Es muss auch nicht immer jede Traumsequenz als solche gekennzeichnet werden, doch sollten die Grenzen der Realität dem Zuschauer noch irgendwie erkenntlich sein. Da Falscher Bekenner aber über weite Strecken immer wieder das gleiche zeigt, kommt Langeweile auf, und die hat bekanntlich noch nie dazu angeregt, über das nach zu denken, was diese Langeweile hervorgerufen hat.
Mathias Bornemann