USA, 2016
Kinostart: 27.10.2016

Der Oberste Zauberer ist da

Es gibt kein untrüglicheres Zeichen für einen schwachen Film als eine Sperrfrist für die Kritiken. Wenn ein Verleih der Presse diktiert, die Kritiken bis kurz vor dem Kinostart zurückzuhalten - wenn es zu spät ist, die Begeisterung der gehypten Fangemeinde zu bremsen - ist offenkundig, wie wenig das Studio seinem eigenen Produkt zutraut.

Nun, keine Regel ohne Ausnahme.

Wir werden vielleicht nie erfahren, warum Disney für sein neues Marvel-Abenteuer eine Kritikensperrfrist verhing, doch an der Qualität des Films liegt es nicht.
Doctor Strange ist ein sehenswertes, praktisch makelloses Fantasy-Abenteuer geworden, das selbst denjenigen Spaß machen dürfte, die die Nase von Comicverfilmungen voll haben.

Wie nicht anders zu erwarten, verkörpert Benedict Cumberbatch die Rolle des brillianten, hochnäsigen Neurochirurgen ebenso punktgenau wie Tilda Swinton seinen in den Comics männlichen Lehrmeister. Man mag die Nase darüber rümpfen, dass einmal mehr eine etablierte Figur geändert wurde, doch Swintons Vorstellung passt durchweg.
Chiwetel Ejiofor und Mads Mikkelsen gefallen als Gehilfe Mordo bzw. Bösewicht Kaecilius, und auch Benedict Wong als Bibliothekar Wong ist eine positive Erwähnung wert.
Weniger weit vorauszusehen war, dass Horrorregisseur Scott Derrickson das CGI-geladene Fantasyspektakel derart souverän in Szene setzen würde. Derrickson, der sein Debut mit Hellraiser: Inferno gab, inszenierte bislang nur ein Big-Budget-Projekt, und das war das enervierende Remake von Der Tag, an dem die Erde stillstand. Mit Doctor Strange vertraute Marvel ihm ein Projekt an, das seinen Helden durch Raum, Zeit und diverse Dimensionen schickt, und ich könnte keinen Regisseur nennen, der diese komplizierte Erzählung stilsicherer umgesetzt hätte.
Dass die Geschichte des Arztes, der bei einem Unfall Hände und Lebenssinn verliert, nie ins Melodramatische abdriftet, ist natürlich auch ein Verdienst des Drehbuchs. Auch hier hatte Derrickson seine Hand im Spiel und schrieb das Buch gemeinsam mit Prometheus-Autor Jon Spaihts. Das Tüpfelchen auf dem i steuerte Community-Schöpfer Dan Harmon bei, der in letzter Minute ins Boot geholt wurde, um dem Film eine Dosis Humor zu verleihen. Für welche Szenen er zuständig war, ist unbekannt, doch Marvel bewies einmal mehr sein Händchen fürs Personal, denn auch der Humor ist passgenau dosiert und lockert die dramatische Geschichte perfekt auf.

Ungewöhnlich, bildgewaltig und durchweg unterhaltsam: Mit Doctor Strange ist Marvel ein weiteres Goldstück gelungen. Wie sich der Titelheld weiter entwickelt, wird ebenso spannend wie seine Eingliederung ins restliche Avengers-Universum.
Oder anders ausgedrückt: Doctor Strange ist fantastisch - in jedem Sinne des Wortes.

Felix Flex” Dencker