Originaltitel: The Reader
USA, Deutschland 2008
Kinostart: 26.02.2009
Deutschland in den Fünfziger Jahren: Dem 15-jährigen Michael (David Kross) wird auf dem Nachhauseweg plötzlich übel. Nachdem er sich in einer Hauseinfahrt übergibt, hilft ihm eine unbekannte Frau und bringt ihn heim. Wie sich herausstellt, hat Michael Scharlach und muss mehrere Monate lang das Bett hüten. Wieder gesund, möchte er sich bei seiner Retterin bedanken und wird mit einem Blumenstrauß bei ihr vorstellig. Michael findet die wortkarge, seltsam abweisende und doch fürsorgliche Hanna Schmitz ungeheuer anziehend, eine monatelange Liebesbeziehung ist die Folge. Der unbeschwerte Sommer trauter Zweisamkeit wird aber nicht nur von den gemeinsamen sexuellen Erfahrungen des ungewöhnlichen Paares bestimmt, sondern auch von der beiderseitigen Liebe zur Literatur: Michael liest seiner Liebsten stundenlang aus einer Vielzahl seiner Bücher vor, von Homers “Odyssee” bis hin zu “Tim & Struppi”-Comics.
Doch von einem Tag auf den anderen verschwindet Hanna spurlos. Erst Jahre später, Michael studiert mittlerweile Jura in Berlin, sieht er seine einstmal Angebetete wieder: Als eine der Angeklagten in einem Prozess, in dem sich fünf ehemalige Wärterinnen des KZs Auschwitz für ihre Taten verantworten müssen.
Bernhard Schlinks Welterfolg “Der Vorleser” verbindet sprachliche Qualität mit einer runden Geschichte übers Erwachsenwerden und die Aufarbeitung der deutschen Ns-Vergangenheit. Regisseur Stephen Daldry und Drehbuchautor David Hare vermochten es in ihrer Verfilmung weder, Schlinks Sprachfertigkeit in entsprechende Bilder zu kleiden, noch die Handlung als solche adäquat auf die Leinwand zu bannen.
Daldrys Inszenierung ist handwerklich routiniert, aber weitgehend bieder und konturlos, Hares Adaption krankt ab der Filmmitte an einer perspektivischen Verzerrung. Schlink hält die Distanz zu seiner Protagonistin durchgehend aufrecht und macht dadurch sowohl Michaels Leid als auch Hannas doppeltes Dilemma, einerseits ihre unnachgiebige Befehlstreue als Kz-Wärterin, andererseits ihr persönliches Handicap, das an dieser Stelle nicht verraten sei, in ihrer Komplexität greifbar und glaubhaft. In der Filmversion wird Hanna hingegen undifferenziert als Opfer dargestellt. Auch die Charakterisierung des erwachsenen Michael, gespielt von Ralph Fiennes, die sich einzig auf seine Vergangenheit mit Hanna stützt, wirkt in ihrer Direktheit reichlich plump.
Über jeden Zweifel erhaben ist aber die Darstellerriege, allen voran die frischgebackene Oscar-Preisträgerin Kate Winslet. Obwohl ein wenig zu schön für die Rolle, stellt sie auch hier wieder ihren Facettenreichtum unter Beweis und überzeugt auch in jenen Szenen, in denen sie in fortgeschrittenem Alter zu sehen ist. Trotzdem ist unverständlich, weshalb ihre höher einzustufende Leistung in Sam Mendes’ weitaus sehenswerterem Zeiten des Aufruhrs nicht mit einer Nominerung bzw. Auszeichnung bedacht wurde. Stark präsentiert sich auch der junge David Kross, der seinem älteren Ich Ralph Fiennes ein wenig die Schau stiehlt. Darüber hinaus wurden auch die Nebenrollen mit einer erlesenen Auswahl deutschsprachiger Darsteller wie Bruno Ganz, Burghart Klaußner, Karoline Herfurth und Alexandra Maria Lara auf den Punkt besetzt.
Fazit: Einer der überbewertetsten Filme der diesjährigen Oscars, einzig die Schauspieler wissen ausnahmslos zu überzeugen.
Michael “Eminence” Reisner