USA, 2009
Kinostart: 13.08.2009
Man könnte sie fast als Parabel auf die Remakewelle verstehen, die Geschichte vom kleinen Mädchen Coraline, das die Tür in eine Parallelwelt findet, in der alles bunter, schöner und aufregender ist und die sich nur allzu bald als trügerisch und seelenlos entpuppt. Doch Erzählungen über versteckte Welten sind so alt wie Märchen selbst. Von Alice im Wunderland über Die Chroniken von Narnia bis hin zu Harry Potter reichen die Geschichten über das, was sich dort verbirgt, wo die meisten Menschen nicht hinsehen. Das Ungewöhnliche an Titelheldin Coraline ist, wie gewöhnlich sie ist. Ein nörgeliges kleines Mädchen, das sich schnell langweilt und, wie Kinder dies nunmal so tun, gut und schlecht allein darüber definiert, was gut oder schlecht für sie selbst ist. Ihre Eltern, die keine Zeit für sie haben, da sie gerade an einem Buch über Gartenbau arbeiten, sind entsprechend schlecht, wie auch der Nachbarsjunge Wybie, der Coraline mit seiner Geschwätzigkeit bei der Erkundung von Haus und Umgebung stört. Als sie hinter einer Tapete einen geheimen Gang entdeckt, staunt sie nicht schlecht über das, was sie am anderen Ende findet. Auf den ersten Blick scheint sie wieder in dem neuen Haus zu sein, in das sie und ihre Eltern gerade gezogen sind. Doch ihre Mutter auf dieser Seite der Wand ist freundlich, fröhlich, immer für sie da und hat ständig etwas leckeres zu essen auf dem Tisch. Auch ihr Vater umsorgt sie und zeigt ihr stolz seinen spektakulären Garten, alles scheint wunderbar. Dass hier alle Knöpfe statt Augen haben, ist nicht so schlimm, bis die “andere Mutter” ihr offenbart, dass auch sie ihre Augen zunähen muss, wenn sie bleiben will.
Die ehrliche Charakterisierung erlaubt es Regisseur und Drehbuchautor Henry Selick, der den Roman von Neil Gaiman adaptierte, die Figur eine Entwicklung durchmachen zu lassen, die über viele kleine Stufen passiert und auch echten Wert besitzt. Die anderen Charaktere, z.B. Coralines Eltern, sind ebenso glaubwürdig gezeichnet. Sie sind keine lieblosen Menschen, sondern leiden nur unter Termindruck - eine Unterscheidung, die Coraline ebenso schmerzlich lernen muss wie viele andere Kinder auch. Komische Momente - wenn auch eher für die Erwachsenen im Publikum - bieten die exzentrischen Nachbarn. Im Erdgeschoss wohnen zwei ältere Damen, Mrs. Spink und Mrs. Forcible, die früher offenbar Pornodarstellerinnen waren, auch wenn dies nie ausgesprochen wird. Im Obergeschoss des Hauses wohnt der zurückgezogen lebende Mr. Bobinsky, der einen Mauszirkus trainiert und dafür zum Himmel stinkenden Käse per Post bestellt. Eine Neuerung gegenüber dem Buch ist Wybie. Selicks Genie ist es zu verdanken, dass die kleine Nervensäge nicht nur ein reiner Dialogpartner für Coraline bleibt, sondern sich nahtlos in die skurrile Umgebung einfügt. Die Ideenvielfalt, mit der Selick die beiden Welten einfängt, ist atemberaubend. Der Mauszirkus, eine Theatervorstellung mit einem Publikum aus Hunden oder auch der Garten, den Coralines anderer Vater hegt und pflegt, es sieht alles sehr, sehr beeindruckend aus. Was mich zur 3D-Version bringt. Der Film ist an einer Handvoll Stellen, darunter der Vorspann, sehr auf 3D gemünzt, dennoch gilt meine Empfehlung eindeutig der 2-D-Version. 3D ist eine Spielerei und wird es auch bleiben, solange die lästigen Brillen notwendig sind. Der Effekt zieht eine Menge Aufmerksamkeit auf sich und den Zuschauer damit aus der Geschichte. Bei Filmen wie Ice Age 3 oder Monsters vs. Aliens ist das kein großer Verlust und der gewonnene Wow-Effekt unterm Strich ein Gewinn, doch Coraline ist es wert, wirklich erlebt zu werden.
Regisseur Henry Selick sagte in einem Interview, Coraline sei für mutige Kinder jeden Alters. Ihre allerjüngsten sollten Eltern jedoch nicht nicht unbesehen mit ins Kino nehmen, denn gelegentlich wird es ziemlich gruselig. Für alle Anderen gilt: Reingehen. Und endlich mal wieder ein richtig schönes Märchen erleben.
Felix “Flex” Dencker