Ein Puppenheim
Es ist die Emanzipation einer Trophäe, ein wenig wie in Henrik Ibsens Nora, nur in der italienischen Oberschicht.
Tancredi, der Stammhalter der Industriellenfamilie Recchi hat Emma (Tilda Swinton) aus Russland nach Italien geholt, sie dem gediegenen Haushalt als Schmuckstück vorangesetzt und drei Kinder mit ihr gezeugt. Neben ihrem Mann ist sie auch noch der Schwiegermutter (Superdiva Maria Berenson) Rede und Antwort schuldig, die Schwiegertochter in spe macht sich bereit, sie zu ersetzen. Doch auf einmal kommt Bewegung in dieses lähmende Szenario: Emma verliebt sich, wahrscheinlich zum ersten Mal. In einer an Hitchcock geschulten Verfolgungsjagd hetzt Swinton dem besten Freund ihres Sohnes hinterher. Als die Tochter ihre Homosexualität beichtet, bekommt die heile Fassade erste Risse, die für Swintons Figur allerdings Luftlöcher sind. Schritt für Schritt entdeckt sie sich selbst als Liebesfähige und als Mensch und fällt am Ende dank eines hilfreichen Deus ex machina sogar in den Laufschritt ins eigene Leben.
Es hat etwas von italienischen Buddenbrooks, aber der wirkliche Pate ist Viscontis Der Leopard. I am Love könnte der weitere Werdegang von Claudia Cardinales Figur sein, die vom jungen Alain Delon (der Name seiner Figur: Tancredi) als Bürgerliche ins Adelsgeschlecht geholt wird.
Regisseur Luca Guadagnino und Kameramann Yorick Le Saux sind sehr darum bemüht, das Beengende, Lähmende hinter den auf den ersten Blick so privilegierten Verhältnissen einzufangen. Dementsprechend geht der Film sehr freizügig mit der Zeit seines Zuschauers um. Auch das Drehbuch kann sich nie von seinem primären Zweck lösen: Tilda Swinton eine unglaubliche Einfraushow zu ermöglichen. Die Wandlung ihrer Figur, die von Beginn an zwischen unnahbarem Fremdkörper und schutzloser Intimität changiert, gehört wohl zu den beeindruckendsten Darstellungen des Jahres.
Vielleicht muss der Rest einfach neben ihrer Präsenz verblassen.
Sven Ole ‘Leisure Lorence’ Lorenzen